Die kommentative Funktion

Am 4. und 5. November 2016 veranstaltet die Universität Lille mit dem Forschungslabor STL (Savoirs, Textes, Langage, UMR 8163 – Lille3) und dem Forschungsverbund CeLiSo (Centre de Linguistique en Sorbonne, EA 7332) der Universität Paris-Sorbonne das nächste Internationale Symposium der germanistischen Sprachwissenschaftler Frankreichs. Das Symposium mit frei gewähltem Thema hält sich alle zwei Jahre abwechselnd mit dem „Agrégations-Kolloquium“, das der linguistischen Fragestellung an der „Agrégation d'allemand“ gewidmet ist. Diese Tagungen versammeln französische und ausländische Linguisten und fördern grenzenüberschreitend deren Mitarbeit und Reflexion im Rahmen traditioneller Zusammenkünfte.

Das Thema des Symposiums 2016 lautet :

Die kommentative Funktion.

 

Hauptgegenstand der Reflexion ist die deutsche Sprache. Kontrastive Untersuchungen sind willkommen, mit Deutsch als Kontrastgröße.

 

Die Tagung stellt sich zur Aufgabe, den Begriff ‚Kommentar‘ und seine Rolle näher zu bestimmen und dabei unterschiedliche Gebiete der Linguistik einzuschließen, die beim ‚Kommentar / kommentieren‘ relevant sind. Denn der Begriff ‚Kommentar‘ wirft ein definitorisches Problem auf.

In der mittelalterlichen Tradition gehörte der Kommentar einer oft institutionalisierten, auf die Aneignung eines Textes gerichteten Tätigkeit an. Es konnte sich um einen älteren Text, vor allem einen Text aus der Antike, oder auch einen zeitgenössischen Text handeln, als Gegenstand epistemologischer Überlegungen. Ob es nun um Glossen oder die Erstellung einer neuen Fassung ging, der Kommentar warf grundlegende Fragen auf, die mit der Beibehaltung des Sinns, des Wortlauts oder der Absicht des Autors zusammenhingen.

Die heutige Linguistik hat sich den Terminus zu eigen gemacht, doch mit einer perspektivischen Änderung der Reflexion. Eine allgemeine Definition ist nicht vorhanden. Nachschlagewerke situieren den Kommentar im Zusammenhang mit dem Dualismus Topik / Kommentar der Informationsstruktur oder mit der Textsorte Kommentar (Maingueneau 2002, Moeschler 1994), andere hingegen lassen ihn beiseite (u.a. Bußmann 2008). Die Ausdrücke ‚Kommentarkommentieren‘ erscheinen jedoch bei der Beschreibung zahlreicher sprachlicher Phänomene.

Kommentieren könnte nun als eine Funktion beschrieben werden, die einer bestimmten – sprachlichen, einfachen oder komplexen - Einheit x einen neuen Wert y zuordnet, der darin besteht, „etwas über diese Einheit zu sagen“. Demnach ist es möglich, einen Kommentar unter zwei verschiedenen sich ergänzenden Gesichtspunkten zu betrachten: als Vorgang des Kommentierenden und als Ergebnis des Kommentierens.

Sei es in einer dynamischen oder resultativen Perspektive, der Begriff ‚Kommentar‘ spiegelt auf alle Fälle einen Perspektivenwechsel seitens des Kommentierenden wider.

 

Folgende Fragestellungen werden vorgeschlagen :

 

1)         Was heißt : kommentieren ?

– Begriffsbestimmend sollte der Kommentar von anderen Begriffen abgegrenzt werden, wie z.B.:

  • Kommentar / Polyphonie – der Kommentar beruht auf Polyphonie, aber inwieweit? Polyphonie heißt nämlich nicht unbedingt Kommentar. (Vion 2005),
  • Kommentar / Dialogismus – wie wird der Kommentar im Rahmen neuer Ansätze erfasst, sowie jener der interaktionalen Linguistik?
  • Kommentar / Evaluation, – welches sind deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede (Hunston 2013) ?

– Es geht auch darum, den Kommentar von anderen sprachlichen Erscheinungen abzuheben wie z.B. dem Einschub, der Apposition, der Parenthese (die Frage der Doppelpredikation) – was fällt eigentlich in den Bereich des Kommentars?

 

2)         Die Analyse kann auf semantisch-syntaktischer, lexikalisch-semantischer, diskursiver, informativer oder kommunikativer Ebene erfolgen und sich auf einfachere bis auf komplexere bzw. umfangreichere kommentative Einheiten und Phänomene beziehen wie:

– Mikrostrukturen (auf phonologischer Ebene),

– Suprasegmentale Phänomene (Prosodie, Kontrastfokus), wenn sich der Kommentar in eine Trägerstruktur fügt,

–  in semantisch-syntaktischer und diskursiver Hinsicht :

  • Einheiten und Phrasen unter der Satzebene: Adverbialia mit kommentativer Funktion, metasprachliche Ausdrücke, Erläuterungen, Rück- und Vorverweise, Vorwegnahmen...
  • fehlende Kasuskongruenz, insbesondere beim substantivischen Attribut (so z.B. Verwendung des Nominativs statt des Dativs, des Akkusativs oder sogar des Genitivs),
  • „appositive“ Relativsätze,
  • den Sonderfall der weil-Nebensätze mit Verb-Zweit-Stellung,
  • andere „kommentative“ Nebensätze (bestimmte Konzessiv- und Kausalsätze...),
  • topologische Sonderfälle: Verb-Erst-Stellung in Hauptsätzen, gewisse Formen der Topikalisierung, Rechtsversetzungen ...

 

3)         Die Satzebene bietet u.a. folgende Untersuchungsfelder:

  • die Informationsstruktur Topik / Kommentar (Krifka 2007), auch in Verbindung mit den oben (2) angeführten Fragen,
  • den Zusammenhang zwischen Kommentar und einigen Satztypen (Ausrufesätzen z.B.), insbesondere im Rahmen der „Insubordination“ (Evans 2007),
  • die Verwendung der Ausrufesätze oder anderer Satztypen.

 

4)         Als „meinungsäußernde“ Textsorte (Lüger 1995) gibt der Kommentar Anlass zu zahlreichen Analysen. Jüngere Forschungsansätze bevorzugen das ‚Mehrebenen-Modell‘ (Heinemann / Viehweger 1991) und untersuchen die im Text eingesetzte Strategie (Lenk / Vesalanien 2012). Er fungiert oft als Persuasionsmittel im Hinblick auf das zu erzielende Publikum und trägt dynamisch zur Spannung zwischen dem kommentierten Bereich, dem Kommentierenden und dem zu überzeugenden Publikum bei. Diese Fragen können in verschiedenen Gebieten (Presse, Politik, Wirtschaft, Kultur…) besprochen werden. Als Gegenstand der Untersuchung schließen sich auch (Unter-) Textsorten wie ‚Leitartikel‘ an, deren Aufbau und Kohäsionsmittel.

Infolge ihrer textstrukturierenden und pragmatisch-kommunikativer Rolle nimmt die Phraseologie eine besondere Stellung ein.

 

5)         Die Überlegung zur kommentativen Funktion führt auch zur Übersetzung, wenn diese  zum Kommentar wird, so z.B. im Fall der auf die Zielsprache gerichteten (target oriented) Übersetzungen (Ladmiral 2014), oder wenn Übersetzungen ihre eigenen Konstrukte herbeiführen  (Übersetzungen von Freud oder Heidegger,...).

 

6)         Vom historiographischen Standpunkt aus wäre insbesondere zu berücksichtigen: Wie / unter welchen Einflüssen gelang wohl die Entwiclung des Kommentars als Textsorte im deutschsprachigen Raum? Die Tradition der Glosse, das Verfassen kritischer Ausgaben, die Abhandlung oder das Essay können in diesem Zusammenhang in Betracht gezogen werden.

 

   
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französische Version: http://germanistes2016.sciencesconf.org/ 

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